Der erregte Rand und die verzagte Mitte

Das Geschäftsmodell der Medien, der Politik-, Kommunikations- und sonstigen Berater ist die Erregung. Erregt werden wir durch das Unerwartete. Das kann ein österreichischer Fußballsieg gegen Deutschland sein, ein falsch prognostiziertes Wahlergebnis, eine Flutkatastrophe oder eine nicht mehr erhoffteRettung in letzter Sekunde. “Only news is news” – ob “bad” oder “good” spielt keine Rolle.

Menschen wollen das Unerwartete nicht. Sie wünschen sich Kontinuität und Verlässlichkeit. Aber wenn das Unerwartete doch geschieht, wollen sie Erklärung und Beistand. So  einfach ist das. So einfach ist das nicht.

Erklärungen sind nicht einfach. Nur: Komplizierte Erklärungen sind einfach schlecht zu verkaufen. Ratlosigkeit der Experten ist Selbstbeschädigung. Keiner kann Experten brauchen, die keine Erklärungen wissen und keine kompakte Lösung haben.

Der Ausgang der österreichischen Bundespräsidentschaftswahlen am 22. April 2016 ist ein schönes Beispiel. Die Meinungsforschung (und deren Auftraggeber) hatten das Glück, ihn nicht vorhersagen zu können, sonst wäre er nicht so erregend. Sonst entspräche er nicht so gut dem Geschäftsmodell.

Man könnte ihn auch relativieren.

Schon 1999 unter Jörg Haider haben die Freiheitlichen an die 27 Prozent erreicht, lange bevor Flüchtlinge ein (großes) Thema waren. Das aktuelle Ergebnis ist damit immer noch auffällig genug, aber es bleibt Ausdruck einer linearen, keiner exponentiellen Veränderung. Der Erfolg vorwiegend rechter, fallweise auch linker Erlöser-Parteien ist kein österreichisches Spezifikum. Das widerspricht zwar nicht der These, dass die hiesigen Regierungsparteien Mitverantwortung für diese Entwicklung tragen, nimmt ihnen aber die einzigartige Inferiorität.

Das Gefühl der Kontinuität ist über lange Zeit schon brüchig. Die Arbeitswelt verändert sich, die Wirtschaftswelt, die Medienwelt verändert sich, die Welt verändert sich. Der gesellschaftliche Konsens erodiert, da sind Außenfeinde immer hilfreich. Die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009, die aktuelle Flüchtlingskrise sind Ereignisse, die die große Mehrheit in Österreich nicht unmittelbar getroffen haben, aber sie haben als Menetekel die diffuse Angst verstärkt, bestätigen sie.

In Zeiten der Angst zieht man gern die Zugbrücken hoch. Gegen das Freihandelsabkommen TTIP gibt es <a href=“http://hd.welt.de/Ratgeber-edition/article154680003/Freihandel-ein-Schreckgespenst.html“>weltweit Widerstand</a>, die Zeitung DIE WELT hat kürzlich sehr schön herausgearbeitet, dass ein deutscher Biobauer und eine US-amerikanische Anwältin und Lobbyistin die nahezu gleichen Argumente haben. Globaler Protest gegen weltweiten Freihandel ist eine ebenso schöne Ironie wie die Forderung, hierzulande nur heimische Lebensmittel zu kaufen und gleichzeitig darüber zu klagen, dass andernorts der Trend zu regionalen Lebensmitteln den Marktzugang erschwert.

Vernünftig, im Sinne von rational, muss das nicht sein. Im Buch <a href=“http://www.amazon.de/Why-Nations-Fail-Origins-Prosperity/dp/0307719219″>„Why Nations Fail: The Origins of Power, Prosperity and Poverty”</a> argumentieren Daron Acemoglu und James Robinson, dass es wohl nicht schicksalhafte Katastrophen sondern unzulängliche, gespaltene und misstrauende Gesellschaften sind, die für den Niedergang sorgen.

Vernünftig, im Sinne von Trost spendend – zumindest vorübergehend, ist der Rückzug auf den engsten Raum im Wort- und im übertragenen Sinn aber dennoch. Er funktioniert wie Alkohol.

Wie hat der Soziologe Gerhard Schulze gesagt? „Genetisch sind wir als Krisenwesen angelegt, nicht aber als Erkenntnistheoretiker.“

Eine selbstbewusste, zur Skepsis und Differenzierung fähige Zivilgesellschaft, die nicht abseits der politischen Parteien und der Medien steht, sondern diese zum eigenen Nutzen formt, sich aber auch selbst in die Verantwortung nimmt, wenn das misslingt, ist robust genug, um den kontinuierlichen, aber nur bisweilen spürbaren Transformationsprozess nicht zu erleiden, sondern zu gestalten. Sie tritt auf, statt sich an den Rand gedrängt zu fühlen, zu verzagen und zu klagen, dass die Ränder die Mitte übernommen haben. Wenn sie das nicht tut, hat sie sich selbst an den Rand gestellt.